AXA IM: Unterschiedliche Herausforderungen in Europa und Amerika

Die heftigsten Kurseinbrüche durch die Corona-Pandemie scheinen überstanden und die Aktienmärkte – insbesondere in Europa – erholen sich merklich. Der Blick richtet sich nun darauf, ob die Marktbewertungen der tatsächlichen Wirtschaft angemessen sind. Gilles Moëc, AXA Chief Group Economist, Head of AXA IM Research sowie Chriss Iggo, Chief Investment Officer, Core Investments bei AXA IM, analysieren die aktuelle Situation auf beiden Seiten des Atlantiks. Ihr Fazit: Europa und Amerika stehen unter konträren Vorzeichen.

In Europa scheint Corona unter Kontrolle

Verglichen mit den Vereinigten Staaten, wo sich die Ausbreitung des Corona-Virus deutlich beschleunigt, scheint die Pandemie in Europa aktuell verhältnismäßig unter Kontrolle zu sein – mit spürbaren Auswirkungen auf den Aktienmarkt. Dieser hatte in der jüngsten Vergangenheit einen seltenen Moment der Outperformance erlebt. Allerdings bleibt die aktuelle Zeit auch weiterhin nur schwer prognostizierbar und der europäische Markt unterliegt spezifischen Risiken. „Auch wenn die Virusausbreitung in keinem Teil von Europa mit den amerikanischen Entwicklungen gleichzusetzen ist, scheint es so, als würden Maßnahmen zur Eindämmung deutlich schneller ergriffen werden. Dies zeigen jüngste Tendenzen in Barcelona“, sagt Moëc.

„Disruptionen der Lieferketten wären die Folge.“ Ein weiteres Risiko bestünde bei Beschäftigungsverhältnissen. „Der Arbeitsmarkt wird gegenwärtig durch sehr umfangreiche Bezuschussungen künstlich stabilisiert. Allerdings drohen Kündigungen, wenn diese staatlichen Unterstützungsprogramme zurückgefahren werden“, meint Moëc. Das könnte die Konsumausgaben nach der aktuellen, unerwartet starken Erholung drücken. Auch in einer Verschärfung der Kreditvergabekriterien durch Banken, die damit dem möglichen Ausbleiben von staatlichen Garantien zuvorkommen wollen, besteht ein Risiko für den europäischen Markt.

„Gegen die drohenden Risiken braucht es einen europäischen Rettungsschirm“, sagt Moëc. „Und trotz der jüngsten Einigung der europäischen Mitgliedsländer zum EU-Wiederaufbaufonds, die ein deutliches politisches Signal setzt, ist der geldpolitische Stimulus überschaubar. Das aktuelle Programm entspricht lediglich einem Wirtschaftswachstum von drei bis vier Prozent über einen Zeitraum von sieben Jahren.“ Insbesondere in der geringeren Bereitschaft zu handeln, läge ein deutlicher Unterschied zu den Vereinigten Staaten.

Amerika wappnet sich für mehr

Der US-amerikanische Finanzminister, Steven Mnuchin, diskutiert öffentlich über einen Verzicht auf kleinere Darlehen, die im Rahmen des Paycheck Protection Programme gewährt wurden – und steht damit im Gegensatz zu Europa. Zeitgleich hat das Repräsentantenhaus positiv über ein Wirtschaftsprogramm abgestimmt, das acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2020 und weiteren sieben Prozent im darauffolgenden Jahr entsprechen würde. Präsident Donald Trump scheint gegenüber diesem Programm in Anbetracht der sinkenden Umfrageergebnisse immer positiver gestimmt. „Seit Beginn der Krise konzentrieren sich die Märkte abwechselnd entweder auf die Risiken der Pandemie oder auf die unterstützenden politischen Aktivitäten“, sagt Iggo. „Ersteres ist positiver für Europa, letzteres für die Vereinigten Staaten.“

Am Ende steht die Überzeugung, dass sich die Welt erholen wird

Der wichtigste Treiber der Märkte ist jedoch die grundlegende Überzeugung, dass sich die Welt erholen wird – sowohl wirtschaftlich als auch in Bezug auf die Corona-Pandemie. Diese psychologische Komponente ist gleichermaßen der Grund, warum die Marktbewertungen und das aktuelle Momentum im Gegensatz zu den Risiken der Pandemie stehen. Zwar sollten die Renditeerwartungen von Aktieninvestoren nicht zu Überheblichkeit führen. Die Wirtschaft hat einen deutlichen Einbruch erlitten, die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, die US-Präsidentschaftswahlen werden zu politischen Ungewissheiten führen, im anbahnenden Winter könnte die Ausbreitung des Virus wieder zunehmen.

Noch ist nicht absehbar, welche Auswirkung die Pandemie auf die Globalisierung haben wird, allerdings seien all dies keine neuen Erkenntnisse. In den kommenden Monaten könnten der europäische Deal, ein fiskalischer Stimulus im Vorlauf zur US-Präsidentschaftswahl, ein Durchbruch bei der Impfstoff-Forschung und ein möglicher Rückgang des Infektionsgeschehens die Märkte als positive Faktoren stabilisieren.

„Year-to-Date sind die Renditen der meisten Aktienindizes noch negativ und durch die Entwicklungen im ersten Quartal haben Anleiheindizes ihre Aktien-Pendants outperformt. Sofern jedoch keine deutliche Verschlechterung der wirtschaftlichen oder pandemischen Entwicklung eintritt, ist es unwahrscheinlich, dass es dabei bleibt“, sagt Iggo. „Aktieninvestments bieten Anlegern die Möglichkeit, unmittelbar an Aufschwüngen zu partizipieren und die aktuellen Aussichten sind positiv.

Jetzt kommt es darauf an, dass die Unternehmen die Erwartungen der Analysten bestätigen.“ Die Marktentwicklung unter der aktuellen Informationslage deutet darauf hin, dass es sehr negative Nachrichten bräuchte, damit die Bären wieder die Oberhand gewinnen würden – etwa eine umfassende zweite Welle oder ein erneuter Lockdown großer Teile der globalen Wirtschaft. „Dass die Wirtschaftsleistung wieder auf das Niveau von Anfang April 2020 fällt, ist sehr unwahrscheinlich, allerdings kann auch die Sorge davor zu deutlichen Marktbewegungen führen“, sagt Moëc. „Zum Glück sieht es aktuell nicht danach aus.“